Eisenstein

von Christoph Nussbaumeder

Alles beginnt mit einer Lüge im April 1945. Die junge Erna Schatzschneider flieht aus Böhmen vor der roten Armee. Sie will nach Eisenstein, einem kleinen Ort in Bayern, wo ihr Onkel auf dem Hof der reichen Familie Hufnagel arbeitet. Ihr Verlobter ist schon vor längerer Zeit im russischen Winterkrieg gefallen. Das jedoch verschweigt Erna den Hufnagels. Stattdessen erzählt sie ihnen, dass er erst kürzlich auf ihrer gemeinsamen Flucht erschossen wurde. Denn sie muss ihren Verlobten noch ein bisschen länger leben lassen, um der Geschichte, die ihr Leben retten soll, Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Erna hat nämlich auf ihrem Weg nach Bayern einen entflohenen KZ-Häftling getroffen und ist ein Stück des Wegs gemeinsam mit ihm gegangen, nachts haben sie einander gewärmt. Und als sie sich kurz vor Eisenstein trennen, trägt Erna ein Kind im Bauch. Sie hat Glück, dass sie Josef Hufnagel, dem Besitzer des Hofes, gefällt. Er gewährt ihr ein Dach über dem Kopf und tröstet sich mit ihr über die Krankheit seiner Frau hinweg. Erna behauptet, das Kind sei von ihm. Er lässt sie bleiben unter der Bedingung, dass sie Stillschweigen über seine vermeintliche Vaterschaft bewahrt. Als Erna endlich den Mut hat, Josef über ihre Notlüge von einst aufzuklären, ist es bereits zu spät. Der Stein, der die Lawine des Unglücks ins Rollen bringt, ist schon längst losgetreten.

In sechs Zeitsprüngen zwischen 1945 und 2008 erzählt Christoph Nußbaumeder die packende und berührende Familiensaga der Schatzschneiders und Hufnagels in dem Ort Eisenstein über drei Generationen. Dies geschieht vor dem Hintergrund wichtiger Ereignisse der westdeutschen Geschichte, in der das Lügen, Verschleiern, Vertuschen und Neuerfinden von Biografien nach 1945 Konjunktur hatte. Nußbaumeder zeigt, wie diese Urlüge viele weitere nach sich zieht und im Laufe der Zeit, Generation um Generation, ihre umfassende zerstörerische Kraft entfaltet. Gleichzeitig entwickelt das Drama einen großen Sog und provoziert ein tiefes Mitgefühl mit den Kindern und Enkeln, die einerseits zu den Leidtragenden des Handelns ihrer Großeltern geworden sind und sich andererseits ihrer Verantwortung nicht entziehen können und dürfen.

»Eisenstein« ist ein starkes Stück neuer deutscher Dramatik, das 2010 in Bochum uraufgeführt und schon auf vielen Bühnen gespielt wurde.

Der komplexe und berührende Stoff hat Christoph Nußbaumeder weiterhin nicht losgelassen, denn er diente ihm auch als Grundlage für seinen ersten und gleich preisgekrönten Roman »Die Unverhofften«, der 2020 bei Suhrkamp erschienen ist. Für diese Inszenierung kommt die ehemalige Chefregisseurin Uta Koschel wieder zurück an das Theater Heilbronn.