Die letzte Nacht der Welt (DSE)

(La dernière nuit du monde) · von Laurent Gaudé
aus dem Französischen von Margret Millischer
experimenta

Die Welt steht unmittelbar vor großen Veränderungen: Die Nacht als Ruhephase für Mensch und Tier wird abgeschafft. Von nun an herrscht 24 Stunden Aktivität in der Arbeits- und Geschäftswelt. Jeder nimmt sich individuell ein kurzes Zeitfenster zum Schlafen. Dieses dauert dank eines neuen Medikaments aber nur 45 Minuten. Nach einer Dreiviertelstunde Schlaf sind die Menschen genauso ausgeruht wie normalerweise nach sieben oder acht Stunden Nachtruhe. Jeder Mensch hat damit eine annähernd doppelt so lange aktive Lebenszeit, wenn er nicht mehr so viel schlafen muss. Er kann fast zweimal so viel leisten. Die Produktivität der Gesellschaft, ja der gesamten Menschheit wächst ins Unermessliche, denn es gibt keine Zeitunterschiede mehr, auf die man Rücksicht nehmen muss. Was für eine Revolution!

Gabor, ein Protagonist dieser Zeitenwende, muss in der letzten richtigen Nacht vor Einführung des nachtlosen Tages ans andere Ende der Welt reisen, um dort die Abschaffung zu begleiten. Seine Frau Lou, die bei gewalttätigen Ausschreitungen der »Schwarze-Nacht-Bewegung« gegen diese gesellschaftliche Transformation verletzt wurde, liegt im Krankenhaus und bittet ihren Mann zu bleiben. Gabor fliegt trotzdem. Tausende Kilometer von ihr entfernt erhält er einen Anruf aus dem Krankenhaus, er möge sofort kommen, wenn er Lou noch lebend sehen will. Aber wegen der weltweiten Systemumstellung geht in der »letzten Nacht« kein Flug mehr.

Doch nicht nur in seiner Beziehung bezahlt Gabor einen hohen Preis für seinen Fortschrittsglauben. Die ganze Welt verändert sich unter dem Diktat des unaufhörlichen Wachstums und der stetig steigenden Produktivität, die die Gesetze der Natur komplett auszuhebeln versuchen.

Der in Frankreich überaus renommierte und mit zahlreichen Preisen bedachte Autor Laurent Gaudé hat längst gängige Verfahren und Gedankenexperimente aus Wirtschaft, Medizin und Gesellschaft konsequent zu Ende gedacht. Technisch vorstellbar ist seine Zukunftsvision allemal. Aber Gaudé fragt nach deren Auswirkungen auf Mensch und Natur und stellt zur Diskussion, ob man alles, was die wissenschaftliche Forschung ermöglichen würde, auch tatsächlich umsetzen muss. »Die letzte Nacht der Welt« ist das Gewinnerstück des dritten Dramenwettbewerbs »Science & Theatre« und wird im Science Dome der experimenta seine deutschsprachige Erstaufführung erleben.

Dr. Mirjam Meuser, die Kuratorin des Festivals »Science & Theatre«, sagte in ihrer Laudatio: »In fünf Akten erforscht Gabor in Sprüngen durch die Zeit die tragische Verfallenheit an die Götter des Kapitalismus und dessen intrinsische Motivation, den Menschen zu einer Arbeitsmaschine umzubauen, die rund um die Uhr einsetzbar ist … ›Die letzte Nacht der Welt‹ geht so poetisch wie parabelhaft der Frage nach, was mit uns geschieht, wenn wir 24 Stunden ohne Unterlass produzieren und die Ausbeutung unserer Selbst und der Natur ins Absolute treiben.«